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Coole Frauen: Natalya Nepomnyashcha, Netzwerk Chancen

In meiner Serie „Coole Frauen“ stelle ich euch in unregelmäßigen Abständen Frauen vor, die für mich Inspiration und Motivation pur sind. Frauen, die ihrer Leidenschaft folgen, die mit Herzblut an ihrem Projekt arbeiten und die sich nicht so schnell unterkriegen lassen, wenn es mal schwierig wird. Heute: Natalya Nepomnyashcha, Gründerin und Geschäftsführerin von Netzwerk Chancen, einer Plattform, die sich für Chancengleichheit von jungen Menschen aus finanzschwachen und bildungsfernen Familien einsetzt.

Natalyas Team ist auf THINK FEM aufmerksam geworden und hat mich angeschrieben, um mir Natalyas Geschichte vorzustellen. Ich hab mich riesig gefreut, denn genau solche Frauen gehören auf meine Seite! Und Leute, ich sag’s euch, es war nicht einfach, diesen Text zu schreiben. Nicht, weil meine Interviewpartnerin so schwierig war – im Gegenteil. Natalya, gerade mal 28 Jahre alt, ist großartig. Und genau das macht es so schwierig. Denn ihre Geschichte, ihr Lebenslauf, ihre Ziele, ihr Projekt „Netzwerk Chancen“ und ihre Einstellungen sind kaum in einen Blogpost zu fassen. Unser Telefoninterview habe ich nur sporadisch abgetippt und dennoch sieben volle Seiten damit gefüllt. Eigentlich hätte ich diese am liebsten komplett online gestellt. Das kann ich euch allerdings nicht antun – deshalb folgt nun mein Versuch einer Zusammenfassung.

Aus der Ukraine nach Deutschland

Natalya zog 2001 mit ihren Eltern von Kiew nach Augsburg. In der Ukraine war die wirtschaftliche Lage katastrophal, Natalyas Eltern hatten keine Perspektive. Natalya konnte damals kein Wort Deutsch. Nachdem sie eine Übergangsklasse besucht hatte, kam sie auf die Realschule, sprach schnell fließend Deutsch und überzeugte mit einem Einser-Schnitt. In der 9. Klasse versuchte sie, auf das Gymnasium zu wechseln, doch der Schulleiter lehnte sie ab. „Er sagte, ich solle die Realschule erst abschließen, dann die 10. Klasse auf seinem Gymnasium wiederholen und könne dann Abitur machen“, erzählt Natalya. „In seinem Kopf gab es dieses perfekte System und dieses System hat gesagt: Sie gehört auf kein Gymnasium. Damit war die Sache für ihn abgeschlossen.“

Also blieb ihr nichts anderes übrig, als die Realschule abzuschließen. Mit ihren grandiosen Noten – alles Einsen, außer in Sport – hätte sie danach auf das Gymnasium wechseln können. „Aber ich dachte mir: Ich geh doch jetzt nicht noch mal vier Jahre auf eine Schule, die mich erst vor einem Jahr abgelehnt hat, nur um einen Wisch zu haben, wo Abitur drauf steht.“

Ohne Abitur zum Master-Abschluss

Stattdessen zog sie mit 17 Jahren allein nach München, machte erst eine Ausbildung zur Fremdsprachenkorrespondentin, dann zur Dolmetscherin. Nach 4 Jahren hatte sie beide Ausbildungen geschafft. Da der Abschluss zur Dolmetscherin in England als Bachelor anerkannt wurde, ging sie mit 21 nach Nordengland, machte dort ihren Master in internationaler Politik und zog 2012 mit dem Masterabschluss in der Tasche nach Berlin. „Ich dachte, dass mich jeder mit Kusshand einstellt“, erzählt sie. „Ich war jung, hatte meinen Master, sprach fünf Sprachen. Doch gerade im politischen Berlin braucht man Kontakte, die ich als Kind aus einem Hartz-4-Haushalt nie hatte. Ich konnte keine coolen Praktika vorweisen und wusste nicht, wie der Hase im politischen Berlin läuft.“

Doch sie ließ sich nicht unterkriegen – typisch Natalya eben. Sie schrieb 80 Bewerbungen, ergatterte eine Stelle im Marketing und engagierte sich ehrenamtlich in politischen Vereinen, um Kontakte zu knüpfen. 2016 wechselte sie in eine NGO, später in eine PR-Agentur. Bis heute arbeitet sie Vollzeit, momentan als PR-Beraterin.

Durchmarsch? Von wegen. Natalya hatte immer wieder mit Downs zu kämpfen. „Mein Antrag auf Auslandsbafög wurde abgelehnt, in München habe ich mich zuvor gegen Ende des Monats oft von Buttermilch ernährt“, erzählt sie. Mit 17 alleine leben, der Zwang, ins Ausland zu gehen, um einen Uni-Abschluss zu machen, die zig Bewerbungen in Berlin. Uff.

Die Idee zu Netzwerk Chancen

Ende 2015 las Natalya das Buch „Du bleibst, was du bist: Warum bei uns immer noch die soziale Herkunft entscheidet“ von Marco Maurer und dachte sich: Genauso ist es. „Es geht in diesem Buch darum, wie schwer man es als Arbeiterkinder hat, aufzusteigen. Keine Kontakte, keine Vorbilder, keine Chancen“, so Natalya. Immer mehr wuchs ihr Wunsch, selbst aktiv zu werden. „Viele junge Menschen, die wahnsinnig talentiert sind, gehen auf dem Weg verloren, weil sie nicht die Kraft haben, zu kämpfen. Andere Jugendliche aus besser situierten Familien müssen nicht so hart kämpfen, auch wenn sie vielleicht weniger talentiert sind. Die ‚Entscheider’ in Deutschland haben ein besonderes Auftreten. Wie sie sich geben, wie sie sich ausdrücken, das wird einem von klein auf anerzogen. Kindern aus sozial schwachen Familien fehlt dagegen oft das Selbstbewusstsein.“ Das Problem ist: Wenn eine Stelle besetzt werden soll, sucht man sich unterbewusst Menschen, die einem selbst ähnlich sind. „Das ist völlig normal“, sagt Natalya. „Aber so entsteht eben die Situation, dass der soziale Hintergrund immer noch so entscheidend ist.“ In ihren Jobs und Engagements im politischen Berlin wurde sie in dieser Annahme immer wieder bestätigt: „Ich habe oft erlebt, dass man bestimmte Menschen eingeladen hat, weil es ‚der Sohn von...’ war. Ist es eine Leistung, Sohn zu sein? Auf die gleiche Weise wurden Jobs vergeben. Leuten wie mir, die aus einer Hartz-4-Familie kommen, beschafft niemand einen Job.“

Natalya wollte etwas ändern, etwas bewegen, systemisch wirken: „Deshalb habe ich im Juni 2016 Netzwerk Chancen gegründet.“

Was macht Netzwerk Chancen?

Das lässt sich nicht in einem Satz erklären. Die Plattform basiert auf drei Säulen:

1. Dialog

Es gibt Netzwerkveranstaltungen, in denen Organisationen, Stiftungen, usw. untereinander vernetzt werden, um sich auszutauschen und zu kooperieren. Dann gibt es „Chancen Labs“, in denen sich Vertreter aus Politik und Verwaltung mit zivilgesellschaftlichen Organisationen zusammensetzen. Jeder kann frei sprechen – die Ergebnisse sind anonymisiert, die Entscheidungsträger nehmen diese mit in ihre Arbeit. Und dann sind da noch die öffentlichen Veranstaltungen, zu denen jeder kommen kann, der Lust hat. Dabei gibt es keine mehrstündige Frontbeschallung, sondern es geht immer um Austausch, Diskussion und Lösungsfindung. Jede Veranstaltung hat ein Schwerpunkt-Thema.

 

2. Advocacy

Wer etwas bewegen will, muss sich zeigen. Darum geht es in dieser Säule. „Wir treffen uns mit Politikern, erstellen Handlungspapiere und –empfehlungen, schreiben Gastbeiträge, versuchen, in den Medien präsent zu sein, beteiligen uns an anderen Podiums-Diskussionen und netzwerken, so viel es geht“, erzählt Natalya.

 

3. Netzwerk Chancen. Aufsteiger

Die dritte Säule ist noch ganz neu: Netzwerk Chancen. Aufsteiger ist eine Art „Club“ für junge Aufsteiger. „Es gibt in Deutschland so viele Clubs, Netzwerke und Vereinigungen, die zwar teilweise offen, aber oft sehr elitär sind, so dass kaum Aufsteiger vertreten sind. Deshalb wollen wir diese Aufsteiger untereinander vernetzen.“ Neben dem Austausch untereinander werden Workshops und Jobbörsen angeboten und es findet ein reger Austausch mit erfolgreichen Aufsteigern statt.

Netzwerk Chancen, Vollzeit-Job – wie schafft man das?

Für mich klingt es nach einem Vollzeit-Job, Geschäftsführerin von Netzwerk Chancen zu sein. Natalya macht das nebenbei. Neben ihrem Vollzeit-Job. Ich frage mich: Hat die Frau einen 48-Stunden-Tag? Wann schläft sie? Wie geht das? Als ich Natalya das frage, lacht sie: „Das werde ich immer wieder gefragt“, sagt sie. „Aber es geht. Ich arbeite etwa fünf Stunden pro Woche für Netzwerk Chancen. Das klappt dank meines Teams von zehn Ehrenamtlichen so toll. Wir sind gut organisiert, priorisieren enorm, haben feste Termine, Deadlines und treten nach Außen hochprofessionell auf.“ Natalya tauscht sich regelmäßig mit ihren Teamleitern aus, bespricht Aufgaben, ansonsten macht jeder sein Ding und weiß, was er zu tun hat.

Übrigens: Netzwerk Chancen braucht immer gute Leute und bietet auch die Option, in ganz neuen Bereichen zu arbeiten. „Wir haben zum Beispiel Leute, die noch nie mit politischer Kommunikation zu tun hatten und sich bei uns genau darum kümmern. Wenn jemand bereit ist, sich einzuarbeiten, finde ich das super. Diese Chance bekommt man sonst im Beruf nicht so oft.“

Das mit den fünf Stunden pro Woche klingt tatsächlich machbar. Aber nur, weil Natalya so gut organisiert ist und voll auf Verlässlichkeit setzt. „Da bin ich deutscher als so mancher Deutsche“, sagt sie. Und: „Ich glaube, man muss wissen, wofür man etwas macht. Mit seiner eigenen großen Vision vor Augen bleibt man mit sich im Reinen und kommt nie in das Gefühl, nur abzuarbeiten.“

Und einen Ratschlag der Gründerin fand ich besonders interessant: „Man darf keine Angst haben, dass die eigene Idee nicht innovativ genug ist. Auch vor dem iPhone gab es Handys. Wenn man etwas richtig gut macht, ist das oft schon viel mehr, als andere bieten. Also: Folge deinen Überzeugungen, nimm Kritik ernst, aber geh deinen Weg.“

Danke, Natalya, für deinen Mut, deine Kraft und deine Überzeugungen. Ich habe das Glück, aus einer gesunden, einigermaßen gut situierten Mittelstands-Familie zu kommen – und mich hast du definitiv zum Nachdenken gebracht.

 

Fotocredit: Foto von Natalya & Workshop-Situation ("Was macht Netzwerk Chancen?") – Holger Boening

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