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Corona-Chaos im Kopf: Heute so, morgen anders

In diesen Zeiten ändert sich alles ständig. Unsere Welt wird durchgeschüttelt, unsere Pläne werden gecancelt. Ich hätte im Mai geheiratet, wir haben den Termin um mehr als 14 Monate verschoben. „Ist doch egal. Ist nur eine Party“, sagt die eine Stimme. Und die andere heult. Mal ist die eine lauter, mal die andere.

Meinungen ändern sich

Ich mag meinen Artikel vom 16. März nicht mehr. In mancher Hinsicht habe ich ziemlich oberflächlich gedacht, denke ich mir jetzt. Meinungen ändern sich zurzeit häufiger.

Wenn man um seinen Job bangt und gerade die Einkünfte auf Null sinken, hilft es auch nichts, mal wieder einen Kuchen zu backen oder Netflix zu schauen. Vielleicht haben wir mehr Zeit, weil wir uns abends nicht mehr mit Freunden treffen. Aber mit Existenzängsten und Sorgen ist diese Zeit schwer zu genießen. Egal, ob es nun darum geht, Job/Gehalt/Einkünfte zu verlieren, oder einen geliebten Menschen. Und selbst wenn die Sorgen (noch) nicht allzu groß sind, zerreißen sich viele zwischen Kindern, Homeschooling, Haushalt, ach, und dann ist da ja noch der Vollzeitjob. Es ist hart.

Privilegierte Sorgen

Jeder hat gerade etwas zu beklagen. Und wenn es nur ist, dass andere Menschen immer noch viel zu häufig unterwegs sind oder weiterhin Hamsterkäufe tätigen. Ein ziemlich privilegierter Standpunkt. Der Artikel von Sascha Lobo hat mich in der Hinsicht sehr zum Nachdenken gebracht.

 

„Klassismus, also die Abwertung von Menschen einer vermeintlich ‚niedrigeren‘ sozialen Herkunft, ist ohnehin ein unterschätztes Problem. Zur Coronakrise quillt das mangelnde Bewusstsein dafür aus Abiturientendeutschland heraus. Erschreckend, mit welcher Unerbittlichkeit sofortige "Ausgangssperren" gefordert werden, von Leuten, die offensichtlich weder über epidemiologische noch politische oder soziale Expertise verfügen. Und wenig Gespür für die eigenen Privilegien haben. Im klopapiergefüllten Neun-Zimmer-Stuckaltbau lässt sich eine Ausgangssperre viel leichter ertragen als alleinerziehend mit zwei kleinen Kindern in der Einzimmerwohnung.“

 

Ja, auch ich hocke in einem großen Haus mit Garten. Wir haben Platz. Wir haben ein gut eingerichtetes Homeoffice. Wir haben genug Essen, eine Rutsche im Garten und sind vermutlich (noch) nicht infiziert. Wir sollten uns nicht beklagen und erst recht nicht über andere urteilen. Oder? Kann ich meine negativen Gefühle einfach wegargumentieren durch Dankbarkeit? Kann ich Verständnis zeigen, wenn jemand andere politische Meinungen hat und die Maßnahmen für völlig überzogen hält? Manchmal. Manchmal nicht.

Mach das Beste draus!

Wenn ich so durch meine Bubble surfe, ploppen tausend Ideen auf. Digitales Co-Working, kostenlose Seminare und Coachings, digitale Bars, Online-Fitness, alle rufen: Hey, Leute, in dieser Krise könnt ihr euch weiterentwickeln! Wir bleiben aktiv, wir erfinden unser Business neu, wir erfinden uns selbst neu, wir werden fit, das ist DEINE Chance! Greif zu! Nutze sie! Und ich bin überrollt und überwältigt und denke mir: Wann schafft ihr das? Und wie schafft ihr es, euer „Mindset“ (ich mag solche Speaker-Coaching-Bla-Wörter eigentlich nicht) so schnell umzustellen? Bin ich die einzige, die immer noch versucht, erstmal klarzukommen und ständig darüber nachdenkt, was wirtschaftlich, gesellschaftlich und gesundheitlich noch alles passiert? Ich mache mir Sorgen um meine Familie, ich habe eine Scheißangst, dass ich meinen Mann verliere oder selbst schwer atmend ins Krankenhaus muss. Ich bin damit manchmal überfordert und kann nicht darüber nachdenken, wie ich mich jetzt noch selbst optimiere und neue Businessmodelle finde. Irgendwie beruhigend fand ich Ronja von Rönne, die twitterte:

 

hab so kein bock dass in paar monaten quarantäne vorbei ist und ihr habt alle aus langweile japanisch gelernt und könnt zwei Tage planken während ich dumm und traurig geworden bin.

 

Wir müssen den Druck rausnehmen, Leute. Den machen wir uns nur selbst. Nicht jeder muss sich neu erfinden und ein besserer Mensch werden. Reicht auch, wenn wir halbwegs unbeschadet durch diese Krise kommen, halbwegs fröhlich bleiben, halbwegs das Leben im Griff haben und uns dann Schritt für Schritt wieder aufrappeln. Es ist okay, wenn wir gerade nicht mehr agieren und nur noch reagieren. (Zur Info: Ich erzähle mir das durchs Aufschreiben auch selbst, damit ich es verinnerliche.)

Gedankenwirrwarr

Aber ich weiß auch, dass Online-Angebote Menschen auffangen können. Nicht alle haben Kinder, die sie auf Trab halten. Lange zuhause zu hocken kann einsam machen. Auch das ist ein Problem. Psychische Krankheiten können sich verschlimmern oder erst entstehen. In der Hinsicht bin ich sehr glücklich, dass es im Netz genug Ablenkung gibt, genug „Arbeit“, in die man sich stürzen kann, mit der man Struktur in dieses Chaos bringt.

 

Alles hat so viele Seiten. Alles kann von so vielen Perspektiven betrachtet werden. Eine Freundin muss vielleicht allein in den Kreissaal, um ihr Kind zu bekommen. Es zerreißt mir das Herz. Aber darf man überhaupt wegen solchen Dingen jammern? In Italien sterben gerade Menschen allein, verlieren geliebte Angehörige, ohne sie noch einmal sehen zu dürfen. Also, ja, es könnte bei mir viel schlimmer sein. Aber ich glaube, ich darf trotzdem mit meiner Freundin leiden. Und ich darf trotzdem traurig sein, dass unsere Hochzeit ausfällt und Angst haben, dass wir viel Geld verlieren als Selbstständige. Aber ich darf auch lachen und eine gute Zeit haben und kurz mal nur an mich denken. Oder?

 

Ich ändere meine Stimmung ständig. Genau, wie sich die Nachrichtenlage ständig ändert. Ich bin optimistisch, sage: „Wir gucken jetzt einfach von Tag zu Tag und machen das Beste draus“, sitze in der Sonne, lache und esse abends etwas Leckeres. Und dann sehe oder lese ich irgendwas, denke zehn Minuten später, dass die Welt vermutlich untergeht und sitze heulend auf dem Sofa.

 

Ich glaube kurz mal an die Solidarität der Menschen, bin gerührt vom Applaus und begeistert davon, wie miteinander umgegangen wird. Und dann flattert eine Mail ins Postfach, in der ich spüre, dass am Ende jeder doch nur seinen eigenen Hintern retten will und der Egoismus immer noch am stärksten ist. Und dann kommt noch ein Rentner, der meinem Sohn ins Gesicht fassen möchte. Und ich verliere wieder alle Hoffnung, dass wir es jetzt im Griff haben.

 

Es ist ein Hin und Her, ein Auf und Ab. Und auch dieser Text ist ein bisschen wirr. Ich springe, so wie die Gedanken in meinem Kopf springen. Aber schreiben hilft, sagt man ja. Und lesen vielleicht auch. Vielleicht denke ich übermorgen schon wieder ganz anders über manche Dinge. Auch das ist normal.

Mir bleibt nur zu sagen: Da müssen wir jetzt durch. Also, durchhalten.

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Kommentare: 1
  • #1

    Hannah (Sonntag, 22 März 2020 17:27)

    Danke für diese so wichtigen Zeilen! Du sprichst mir aus der Seele!

    Viele liebe Grüße
    Hannah