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Don't judge: Lasst uns aufhören, über Geburten zu urteilen!

Das Thema Geburt ist so sensibel, so individuell und so umstritten, wie kaum ein anderes. In der Schwangerschaft kommt man wohl oder übel mit diesem Thema in Berührung. Schließlich muss man sich entscheiden, wo man entbinden will (Geburtshaus? Hausgeburt? Klinik? Welche Klinik?), was einem dabei wichtig ist und wie man mit Schmerzen umgehen möchte. Man kann Wassergeburten planen, Geburtspläne schreiben, Gespräche führen, Hypnobirthing-Kurse besuchen, Atemtechniken üben, eine Kaisergeburt planen. Und vielleicht kommt am Ende doch alles anders, als man denkt. Ich kenne kaum eine Mutter, bei der die Geburt so gelaufen ist, wie sie es sich vorgestellt hatte.

Alles oder gar nichts wissen? Was ist besser?

Also lieber gar nicht informieren? Keine Gedanken machen, keine Geburtsberichte lesen, um sich nicht unnötig Sorgen zu machen? Ich schwanke immer hin und her, was wohl hilfreicher ist. Erfahrungsgemäß gibt es zwei Lager: die, die alles wissen wollen und die, die gar nichts wissen wollen. Ich kann beide verstehen.

 

Einerseits bin ich von Natur aus unfassbar neugierig und will jedes Detail einer Geburt genau wissen. Ich bin fasziniert von dem Vorgang voller Naturgewalt, von der weiblichen Kraft und Macht, Leben auszutragen. Und es gibt diese wunderschönen Geschichten, in denen alles so läuft, wie man es sich wünscht. In denen die Frauen noch im Kreißsaal sagen: „Ich will noch eins.“ (Gibt es wirklich. Ich kenne zwei dieser Frauen persönlich, sonst hätte ich es selbst nicht geglaubt.)

 

Andererseits hört man auch viele negative Geschichten. Es können körperliche Schäden entstehen, die eine Frau oder auch das Kind ein Leben lang beeinträchtigen, es können psychische Traumata entstehen, die ebenso einschneidend sind. Aber: Man weiß eben auch, was für verschiedene Eingriffe oder Komplikationen vorkommen (können). Wieso man vielleicht plötzlich eine Sauerstoffmaske auf das Gesicht gedrückt bekommt, warum sich eine Hebamme mit voller Kraft auf den Bauch schmeißt oder dass das Köpfchen eines Babys nach dem Einsatz einer Saugglocke erschreckend verformt aussieht (und dass das kein Grund zur Sorge ist). Man kann sich bereits vorab über verschiedene Einleitungs-Methoden und Schmerzmittel-Optionen informieren. Ich finde es hilfreich, solch ein Basiswissen zu haben, um nicht total erschrocken zu sein, wenn gewisse Dinge passieren oder bestimmte Entscheidungen anstehen.

 

Aber ich kann genauso gut verstehen, dass man irgendwann dicht macht und sagt: Ich muss mir nicht 100 Schicksalsgeschichten von Müttern reinziehen, die mir eher Angst machen als mir diese zu nehmen. Denn: Am Ende wird es sowieso anders laufen. Bei mir war es auch so. Ich hatte eine nicht ganz ungefährliche Komplikation (Uterusatonie), von der ich vor meiner eigenen Erfahrung noch nie gehört hatte, obwohl ich mich informiert hatte. Man muss sich in solchen Momenten auf die richtige Reaktion von Hebammen und Ärzten verlassen. Auch das ist nicht ganz easy, vor allem, weil es zumeist völlig fremde Menschen sind.

PDA oder nicht? Spontangeburt oder Kaiserschnitt?

Vor allem eines musste ich in den letzten zwei Jahren ganz krass lernen: Don’t judge. Hört auf damit, andere Frauen für ihre Geburt zu verurteilen.

 

Du hast keine Schmerzmittel gebraucht, deine Freundin hatte eine PDA? Kein Grund, dich als Heldin zu feiern. Das Schmerzempfinden ist unterschiedlich. Die einen fühlen sich von normalen Wehenschmerzen völlig überwältigt, kommen gar nicht klar und brauchen dringend Hilfe, andere sagen: „Joa, tut schon weh, aber war okay.“ Weder das eine noch das andere ist besser oder schlechter. Es ist einfach ein persönliches Empfinden, vielleicht waren die Umstände andere, vielleicht sind die körperlichen Voraussetzungen andere, vielleicht waren bei dir die letzten Tage vor der Geburt total entspannt und bei deiner Freundin extrem anstrengend, vielleicht war die Temperatur im Kreißsaal eine andere oder die Hebamme war besonders nett oder doof. Es gibt so viele kleine Faktoren, die alles beeinflussen können.

 

Deine Kollegin will einen Kaiserschnitt, ‚nur‘, weil sie Angst vor Schmerzen und Geburtsverletzungen hat und du denkst dir: ‚Stell dich nicht so an, JEDE Frau hat Angst‘? Lass sie doch! Wenn ihre Ängste so groß sind, würden diese vielleicht tatsächlich bei einer Spontangeburt dazu führen, dass sie völlig verkrampft und es einen Geburtsstillstand gibt. Es ist nicht deine Entscheidung, es sind nicht deine Gedanken. Es ist nicht deine Geburt. Sie wird sich schon über Vor- und Nachteile von Kaiserschnitten informiert haben. Und sie ist deshalb keine bessere oder schlechtere Mutter.

Mein Abschied vom Idealbild

Ich erwische mich selbst immer wieder dabei, zu urteilen. Ich habe dieses Idealbild im Kopf: Die Wehen gehen zuhause los, es kommt zu einer Spontangeburt in einem Krankenhaus, dabei gibt es möglichst wenig Schmerzmittel oder Eingriffe, danach wird das Kind gestillt, mindestens sechs Monate voll. Warum ist das so tief in mir drin? Peu à peu lerne ich, dieses Ideal loszulassen. Mit viel Empathie, Zuhören und Beobachten erkenne ich, dass auch andere Wege gut und richtig sind. Gute Freundinnen hatten Kaiserschnitte, manche geben Fläschchen statt Brust. Sie sind großartige Mütter. Sie machen nichts falsch. Ich merke immer wieder: Es ist viel wichtiger, aufs eigene Bauchgefühl zu hören und einen eigenen Weg zu finden, als Idealen nachzueifern. Das Internet, vor allem Social Media Plattformen, können in dieser Hinsicht die Pest sein. Vergleiche, Vergleiche, Vergleiche. Ob man will oder nicht. Der eigene Weg wird als der richtige präsentiert. „Aber nur, weil das für mich gut funktioniert (hat), muss es ja für euch nicht so sein. Hört auf euch selbst“, steht dann da am Ende, wenn es nette Postings sind. Und dennoch nimmt man diese Meinungen viel zu selten als Option und viel zu oft als Ideal oder gar Konkurrenz an – aus Unsicherheit.

 

Ist doch klar: Natürlich will man die perfekte Mama sein. Der Mensch strebt immer danach, alles möglichst gut und möglichst richtig zu machen. Beim Kinderkriegen hat man keine Erfahrung, wie das am besten klappt – also schaut man sich um und guckt, wie es andere machen, liest die neusten Empfehlungen, googelt und inhaliert Ratgeberliteratur. An diesem Wissen lässt man andere teilhaben. Ob sie wollen oder nicht.

Vergleichen, urteilen, bewerten

Schon in der Schwangerschaft fängt das Vergleichen und Urteilen an. Was, du fliegst noch? Du isst ein belegtes Brötchen vom Bäcker? Das würde ich mir aber echt überlegen. Sollte man eine Katze nicht weggeben, wenn man nicht immun gegen Toxoplasmose ist? Und wieso ist die noch so schlank und ich hab schon 9 Kilo mehr drauf? Meinst du wirklich, du solltest noch laufen gehen? Steig doch besser auf Yoga um.

 

Wie immer gilt: Mach, was du für richtig hältst – und verurteile niemanden, der es lockerer sieht oder strenger ist. Man kann trotzdem drüber reden. Ja, ich hatte wirklich schon angenehme(!!) Gespräche darüber, wie man mit den Einschränkungen in der Schwangerschaft umgeht – obwohl wir nicht alles gleich gemacht haben. Offenheit und Empathie helfen. Und dann kann durchaus ein Gedankenanstoß dabei sein, bei dem man sagt: „Guter Punkt, das werde ich meine Ärztin nochmal fragen.“

 

In Sachen Geburt geht es weiter mit dem Urteilen. Ich erwähnte es bereits. Von Diskussionen um Wochenbett-Verhalten, Stillen, Tragen, Schieben, Reisen, Schlaf und Erziehung will ich gar nicht erst anfangen. Es ist so fucking hart, einen eigenen Weg zu finden, der sich gut und richtig anfühlt, obwohl es andere anders machen.

 

Ich schweife ab. Was ich eigentlich sagen wollte: Wir sollten uns alle immer wieder selbst zurechtweisen, wenn wir merken, dass wir über andere Mütter und ihre Geburten urteilen. Eltern haben doch genug Herausforderungen zu meistern. Füreinander da sein, Verständnis zeigen, den eigenen Weg abseits von den Meinungen anderer finden und andere für ihre Entscheidungen nicht verurteilen, sondern bestenfalls feiern – es ist nicht leicht, aber erstrebenswert. Ich arbeite dran. Macht ihr mit?

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Kommentare: 1
  • #1

    Julia (Dienstag, 25 August 2020 12:59)

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