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Coole Frauen: Juliane Primus von der Memoiren-Manufaktur

Foto: Wolf Lux
Foto: Wolf Lux

„Das Leben wird vorwärts gelebt und rückwärts verstanden.“ Diese Weisheit ging mir in letzter Zeit häufig durch den Kopf. Dann trudelte eine Pressemitteilung von Juliane Primus von der „Memoiren-Manufaktur“ in mein Postfach. Sie bietet Privatleuten an, ihre Lebensgeschichten aufzuschreiben und als Mini-Auflage für die Familie als Buch zu drucken. Ich wusste: Mit dieser Frau muss ich sprechen. Die 31-Jährige hat das Zurückblicken zu ihrem Job gemacht. In einer Welt, in der alle ständig die neuste Innovation schaffen, die Zukunft gestalten und nach vorne schauen wollen, beschäftigt sie sich mit der Vergangenheit und schreibt auch noch, ganz oldschool, Bücher. Wie kam es dazu?

Geschichtenerzählerin seit der Kindheit

Foto: Candy Back/Red Rooster
Foto: Candy Back/Red Rooster

Juliane hat schon in der Schulzeit gern und oft geschrieben. Ich habe sie gefragt, woher diese Leidenschaft kommt – sie hatte keine Antwort. „Sie war einfach da. Ich habe immer geschrieben und es ist mir leichtgefallen. So landete ich erst bei der Schülerzeitung, dann habe ich angefangen für Zeitungen zu schreiben.“ Der klassische Weg in den Journalismus folgte. Studium, Volontariat, Job in einer Lokalredaktion, schließlich der Wechsel zu einer größeren Zeitung. „Ich war in einer Kulturredaktion und habe viele tolle Menschen interviewt“, erzählt Juliane. „Von der unbekannten Darstellerin vom Theater an der Ecke über Peter Maffay bis zu Nora Tschirner und Wim Wenders.“ Traumjob. Oder?

Geschichte statt Boulevard

„Das Interview mit Wim Wenders war für mich ein Wendepunkt. Ich hatte mich tagelang intensiv vorbereitet und war total aufgeregt. Dann saß ich vor ihm, das Gespräch war super, Wim Wenders ist ein spannender Mensch, aber nach 25 Minuten war – wie immer – Schluss. Da wurde mir klar: Der macht das, weil er einen Film verkaufen will. Weil es für ihn Promotion ist.“

Und dann war da noch Julianes Leidenschaft für Zeitgeschichte: „Ich habe schon während meines Masterstudiums ein Praktikum in der Stasi-Unterlagen-Behörde gemacht. Auch in meinem Literaturstudium war mir immer der politische und gesellschaftliche Kontext der Werke wichtig“, erzählt sie. „Deshalb habe ich auch während meiner Arbeit in der Redaktion noch nebenher Zeitgeschichte studiert. Im Schulunterricht war Nachkriegsgeschichte kein Thema, außerdem konnte ich mir nie Jahreszahlen merken. Ich wollte meine Wissenslücken schließen.“ Woher kommt dieses Interesse an der Vergangenheit? „Um zu verstehen, wer wir sind, müssen wir verstehen, wo wir herkommen“, sagt Juliane.

Die Gründung der Memoiren-Manufaktur

Aus der Begeisterung für Zeitgeschichte und dem Spaß an Interviews und Begegnungen entstand die Idee für die Memoiren-Manufaktur. „Es ist ein riesiges Privileg, so tief einsteigen und nachfragen zu können“, so Juliane. Sie baute sich erst parallel zu ihrem Job die Webseite auf und suchte sich ihr Team, inzwischen ist sie komplett selbstständig. „Die Gründerinnen-Zentrale in Berlin hat mir sehr bei diesem Schritt geholfen. Mit einem Coach habe ich meine Preisgestaltung, die einzelnen Pakete und meine Zielgruppe definiert.“

Ein Jahr lang in ein fremdes Leben eintauchen

Foto: Memoiren-Manufaktur
Foto: Memoiren-Manufaktur

Was passiert denn nun vom Erstkontakt bis zum fertigen Buch? „Oft melden sich Kinder oder Enkel bei mir. Ich frage dann erst einmal, ob die Person, deren Memoiren ich aufschreiben soll, von ihrem Glück weiß. Das ist ganz wichtig – der Mensch muss das freiwillig machen und Lust darauf haben. Die Vergangenheit aufzurollen ist auch mal traurig und anstrengend. Gerade im hohen Alter fehlt dazu manchmal die Kraft.

Wenn die Person einverstanden ist, bekommt Juliane einen Lebenslauf mit den wichtigsten Eckdaten und Wendepunkten des Lebens zugeschickt und kann sich ein erstes Bild machen. „Dabei entstehen automatisch viele Fragen und mein Kollege Sebastian und ich entscheiden, wer von uns beiden der geeignetere Gesprächspartner ist“, sagt sie. „Wir telefonieren dann mit der Person und machen ein erstes Treffen aus.“ Juliane reist dafür durch ganz Deutschland und besucht sogar manchmal die Orte, an denen die Person aufgewachsen ist, um sich einen Eindruck zu verschaffen. „Je nach gebuchtem Paket gibt es 5 bis 20 Treffen, im Anschluss schreibe ich das Buch. Dann bekommt die Person das Werk zum Autorisieren, eventuell werden Passagen gestrichen oder geändert. Erst dann geht es in den Druck. Der gesamte Prozess dauert etwa ein Jahr.“

Spannende Frauengeschichten

Foto: Wolf Lux
Foto: Wolf Lux

Was hat Juliane aus den Memoiren gelernt? Welche Aha-Momente hatte sie?

„Tatsächlich sind die meisten meiner Kunden weiblich. Ich habe dadurch viele Frauengeschichten kennengelernt, die sonst nie so präsent waren. In den Geschichtsbüchern erfährt man von den Soldaten an der Front. Ich höre stattdessen, wie die Frauen auf der Flucht vergewaltigt wurden, wie eine Oma mit Tochter und Enkelin in einem zerbombten Mietshaus lebte und das Parkett rausriss, um Feuer zu machen und um nicht zu erfrieren. Und mir wird auch immer wieder bewusst, dass es noch gar nicht lange her ist, dass die Frauenbilder völlig anders waren als heute. Es war in den 70ern in Westdeutschland noch nicht selbstverständlich, als Frau arbeiten zu gehen – ich möchte das verstehen, die Kontexte erzählt bekommen. Durch diese Geschichten werden für mich historische Daten greifbar.“

Jeder sollte nachfragen

Juliane empfiehlt jedem, sich die Geschichten von Oma, Opa, Mama und Papa anzuhören. „Wenn die eigene Oma ihre Fluchtgeschichte erzählt, wenn sie beschreibt, wie sie sich als Geflohene gefühlt hatte, dann ändert sich vielleicht auch die Einstellung zur heutigen politischen Situation“, erzählt Juliane. Wenn Menschen aus der eigenen Familie solche Dinge erlebt haben, bekommen sie für die Nachfahren eine andere Dimension. Weil das, was weit weg zu sein scheint, plötzlich ganz nah ist. Und weil die Erlebnisse der Großeltern auch entscheidend dafür sind, wie wir heute leben.

„Ich weiß, dass unser Alltag voll ist. Wir haben alle jeden Tag wahnsinnig viel zu tun und eigentlich keine Zeit dafür, uns mit der Geschichte zu beschäftigen. Aber irgendwann ist es zu spät. Also, fragt beim nächsten Treffen genauer nach. Oder lagert das Nachfragen an mein Team und mich aus – wir können nämlich auch die unbequemen Themen ansprechen, über die in der Familie sonst niemand redet.“

Vielen Dank, Juliane. Für das tolle Gespräch mit dir und für die grandiose Idee der Memoiren-Manufaktur.

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