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WUT.

Warst du schon mal so richtig wütend? Hast Türen geschlagen, wolltest mit Tellern schmeißen (oder hast es getan), hast gebrüllt, geheult, geschluchzt und konntest dich ein paar Minuten kaum oder gar nicht beruhigen? Ziemlich beschissenes Gefühl, wenn so ein Tornado durch den Körper fegt. Das ist nicht schön, man will so nicht sein. Ich gebe es ungern zu, aber auch ich bin manchmal so. Ich weiß, dass das überdramatisch ist, dass ich irrational und wider jeder Vernunft handle. Manchmal ist der Auslöser zudem überhaupt nicht mit der Reaktion in Einklang zu bringen. Hitzköpfig, emotional, dramatisch, kinski-esk – man kann es nennen, wie man will.

Wieso werden wir wütend?

Wut kommt unter anderem auf, wenn wir uns ausgeliefert fühlen. Wir müssen stundenlang im Wartezimmer sitzen und können nicht weg, obwohl zuhause so viel zu tun ist. Jemand fährt uns hintendrauf und das Auto ist kaputt, ohne dass wir etwas dafür können. Das Kind ist schon wieder krank, während im Job gerade ein superwichtiges Meeting ansteht, bei dem man die Arbeit der letzten Monate präsentieren wollte, und der Papa ist auf Geschäftsreise. Manchmal ist man auch auf sich selbst wütend, wenn man eine Aussage oder Tätigkeit bereut, aber diese nicht mehr rückgängig machen können. Oder auf die ganze Welt, die sich einfach nicht verändert, obwohl wir mit der Klimakatastrophe längst an der Klippe stehen.

 

Ebenfalls wütend machen uns Kränkungen. Wir fühlen uns ungerecht behandelt, klein gemacht, unser Stolz wird verletzt. Die Würde des Menschen ist unantastbar – eigentlich. Doch manchmal fühlt es sich anders an, auch wenn dieses Gefühl nur in uns ist. Auch in diesem Fall fühlt man sich in dem akuten Moment ausgeliefert. Dann beginnt es zu brodeln. Die Pupillen weiten sich, der Körper schüttet das Hormon Noradrenalin aus, das Herz schlägt schneller, der Blutdruck steigt. „So bereitet sich der Körper auf eine Kampf-oder-Flucht-Reaktion vor, die im Notfall die eigene Haut retten kann – etwa wenn es darum geht, einen tödlichen Angreifer abzuwehren“, habe ich in einem Artikel auf spektrum.de gelesen. Ein tödlicher Angreifer ist in unserem Alltag allerdings (hoffentlich) nicht im Spiel. Meistens sind es alltäglicher Ärgernisse. Und wenn wir wütend werden, denken wir hinterher: Shit. Wieso bin ich so ausgeflippt? Wie kann ich die Contenance bewahren?

Die gleiche Situation macht nur manchmal wütend

Spannend finde ich die Einsicht, dass uns die gleiche Situation an einem Tag aus der Haut fahren lässt, an einem anderen bleiben wir total cool. Beispiel: Die Bahn hat eine Stunde Verspätung. An manchen Tagen macht uns diese Info fuchsteufelswild, man knallt seine Tasche auf den Boden, die Zornesfalte wird immer tiefer und das Gedankenkarussell geht los:

„Was für eine Scheiße! Man kann sich auf diese Scheiß-Bahn wirklich nie verlassen! Toll, jetzt komme ich zu spät zum Meeting – was sollen die Kunden denken? 'Die dumme Trulla kriegt es beim ersten Termin nicht mal hin, pünktlich zu sein...' Wahrscheinlich starten sie ohne mich und ich werde aus dem Projekt abgezogen. Ich bin ja auch selbst schuld. Wieso bin ich nicht gleich Auto gefahren? Oder hab die Bahn zwei Stunden früher genommen?“

 

Und beim anderen Mal denkt man sich:

„Ach, eigentlich ganz schön. Dann hole ich mir jetzt in Ruhe einen Kaffee und eine Zeitschrift und komme mal dazu, ein bisschen zu lesen und mir das Treiben am Bahnhof anzuschauen. Ich ruf eben die Kunden an – jeder weiß schließlich, dass die Bahn oft Verspätung hat. Und genug Zeitpuffer habe ich eigentlich auch eingebaut, sodass ich im Endeffekt wahrscheinlich nur 20 Minuten später komme. Lässt sich nicht ändern und ist halb so wild.“

 

Jeder von uns wäre wohl gern stets gelassen. Ist aber nicht so leicht. Weil oftmals nicht der Wut-Auslöser entscheidend ist, sondern tieferliegende Gefühle, die ganz andere Ursachen haben. In diesem Text auf happyroots.de ist das ziemlich gut erklärt. Kurz: Wenn wir beispielsweise über einen längeren Zeitraum unerfüllte Bedürfnisse (Schlaf, Essen, soziale Kontakte, Selbstverwirklichung, Anerkennung,...) haben, wenn wir permanent unter Zeitdruck und Stress stehen und/oder uns seit Jahren mit wenig hilfreichen Glaubenssätzen und Überzeugungen rumschlagen, die meistens mit „Ich muss...“ oder „Ich bin zu schlecht/dumm/schwach, um...“ beginnen, dann kann eine gar nicht so schlimme Situation der sprichwörtlich letzte Tropfen sein, der das Fass zum Überlaufen bringt. Wir sind sowieso schon unsicher und frustriert, selbst wenn uns das nicht bewusst ist – da kann eine Bahnverspätung unser limbisches System schon mal überfordern. Die Snickers-Werbung mit dem Slogan "Du bist nicht du, wenn du hungrig bist" mag erstmal banal klingen, hat aber eine richtige Aussage: Wenn unsere Bedürfnisse unerfüllt bleiben, fahren wir aus der Haut. (Muss ja nicht unbedingt das Bedürfnis nach einem Snickers sein.)

Wie kriegen wir die Wut in den Griff?

Der beste Weg, um Wutanfälle wirklich zu vermeiden, wäre also, unsere Bedürfnisse ständig zu erfüllen, unsere Glaubenssätze zu überdenken und Stress zu reduzieren. Ha, total easy, oder? Leider nicht. Allein schon die Bedürfnisse nach beispielsweise Schlaf, Essen, sozialen Kontakten, Selbstverwirklichung und Anerkennung – als Mutter eines Babys oder kleinen Kindes beispielsweise bleiben zumindest einige davon ständig unerfüllt. Ich habe neulich schon darüber geschrieben, wie schwierig Selbstfürsorge ist. Und trotz des ganzen Achtsamkeits-Trends sind die meisten von uns nach wie vor nicht in der Lage, ohne Stress und Zeitdruck durch den Alltag zu gehen. Dann noch diese Glaubenssätze ... puh, die sind tief in uns verwurzelt. Das braucht Zeit. Als erstes also die beruhigende Nachricht: Es ist normal, dass man ab und an wütend wird. Es ist einfach nur ein Zeichen der Überforderung. Es gilt also, damit umzugehen. Wenn wir uns etwas beruhigt haben, lohnt es sich, nachzuforschen, was denn nun wirklich der Grund für diese Wut war. Was uns triggert und wieso. Wenn wir unsere eigenen Schwachstellen kennen und uns selbst besser verstehen, ist es manchmal einfacher, den nächsten Wutanfall abzufedern. Wenn man denkt: „Jetzt passiert es schon wieder. Ich bin nicht auf XY wütend, sondern einfach nur übermüdet und hungrig. Da kann XY nichts für. Dieses Mal atme ich zuerst 5x tief ein und aus.“ Und dann geht es plötzlich. Klingt banal, hilft aber manchmal.

Dampf ablassen oder Wut verdrängen?

„Richtig Dampf ablassen und die Wut rauslassen, das hilft, dann geht es wieder“ ist eine gängige Empfehlung. Hab ich auch oft gehört und lebe ich auch oft. Doch dann habe ich in einem Artikel ein Zitat des Psychologen Brad Bushman gelesen: „Dampf ablassen, um Wut zu reduzieren, ist, als würde man ein Feuer mit Benzin löschen.“ Tatsächlich wurde in Studien nachgewiesen, dass sich die Wut nur noch steigert, wenn man sie zu- und rauslässt. Wenn wir böse sein dürfen, werden wir noch böser. Zwar fühlt man sich kurzzeitig besser, langfristig allerdings „lernen“ wir, dass diese Wutausbrüche gewollt und okay sind. „So unbefriedigend es sich auch anfühlen mag: Oftmals ist es das Beste, sich abzulenken – oder auch einfach nur stoisch abzuwarten, bis der Wutausbruch vorübergeht und der kühle Kopf wieder Oberhand gewinnt“, schreibt Autor Theodor Schaarschmidt in seinem Artikel auf spektrum.de. Und er zitiert den Philosophen Seneca: „Das größte Gegenmittel gegen den Zorn ist der Aufschub.“

 

Ich habe mir eine einfache Methode für die Zukunft überlegt: Wenn ich spüre, wie die Wut in mir hochkriecht, wenn es losbrodelt und ich merke, wie meine Vernunft langsam das Zepter an den Zorn übergibt, dann gehe ich auf Toilette. Egal, in welcher Situation man gerade ist – man kann fast immer sagen: „Moment, ich muss kurz auf Toilette.“ Dort kann man durchatmen. Überlegen, was da gerade getriggert wurde, ob es wirklich so schlimm ist und wie man es schaffen kann, mit kühlem Kopf und coolem Spruch aus der Situation rauszukommen.

 

In einem Beziehungsstreit kann man vor die Tür gehen, sich abkühlen und runterfahren.

 

Manchmal klappt das. Und wenn nicht – was soll’s. Am Ende sind wir alle nur Menschen, die auch mal wütend werden. Wir können uns immer noch entschuldigen.

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